4.4 Übertragbare Krankheiten

Übertragbare Krankheiten sind Krankheiten, die hauptsächlich durch Bakterien oder Viren verursacht werden und oft von Mensch zu Mensch übertragbar sind. Einige dieser Krankheiten typischerweise in bestimmten Lebensphasen auf. So gibt es eine Reihe von Infektionskrankheiten, die wegen ihrer hohen Infektiosität und lebenslangen Immunität typisch für das Kinderalter sind, sogenannte Kinderkrankheiten. Der Terminus «Kinderkrankheiten» soll nicht den Eindruck erwecken, diese Infektionen seien ungefährlich, im Gegenteil. Für einige Krankheiten gelten Impfempfehlungen, da sie mit einer erhöhten Mortalität oder chronischen Gesundheitsschäden der betroffenen Kinder als auch mit einer Gefahr für Schwangere oder Immunsupprimierte, das heisst Kinder, deren Immunsystem geschwächt ist, einhergehen.

Klassische infektiöse Kinderkrankheiten


Zu den klassischen infektiösen Kinderkrankheiten gehören: Poliomyelitis (Kinderlähmung), Pertussis (Keuchhusten), Mumps, Masern, Röteln und Varizellen(Windpocken). Die genannten infektiösen Kinderkrankheiten sind durch Impfungen vermeidbar (siehe Impfempfehlungen Kapitel Gesundheitsförderung & Prävention) und diese werden vom Bundesamt für Gesundheit empfohlen und von den Krankenkassen übernommen (Durchimpfungsraten, siehe Kapitel Gesundheitsversorgung). Eine Ausnahme sind Windpocken, die im Kindesalter «natürlich» durchgemacht werden können. Erst im Alter von 11 bis 15 Jahren wird eine Impfung empfohlen, da späte Infektionen mit erhöhten Risiken einhergehen. Die Windpockenimpfung wird im Kindesalter zurzeit nicht durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung vergütet (BAG, 2019a). Weiter wird die Impfung gegen Haemophilus influenzae Typ b empfohlen, ein Erreger, der zu für Kleinkinder gefährlichen Kehlkopfentzündung und Hirnhautentzündung führen kann. Masern, Röteln, Poliomyelitis (Kinderlähmung) und Haemophilus influenzae sind aufgrund ihres Risikos für das Umfeld meldepflichtig (BAG, 2019b). Statistiken zu den gemeldeten Fällen werden auf Webseiten des BAGs veröffentlicht (BAG, 2019c). Die Anzahl gemeldeter Masernfälle hat seit 2009 stark abgenommen, wenngleich immer wieder meist regionale Epidemien auftreten. Die Anzahl Fälle pro Jahr ist sehr variabel. Mit 678 gemeldeten Fällen wies das Jahr 2011 die höchste Anzahl der vergangenen zehn Jahre auf (Tabelle T4.7). Im Vergleich zu 2018 wurden 2019 wieder vermehrt Fälle gemeldet – allein 203 im ersten Halbjahr (Stand 18.06.2019).

«Kinderkrankheiten» sind nicht ungefährlich. Aufgrund ihres Risikos für das Kind und die Umwelt gelten für einige Impfempfehlungen, und die Diagnosen sind meldepflichtig.

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T4.7

     Röteln wurde seit 2009 nur vereinzelt gemeldet, Fälle von Poliomyelitis gar keine mehr; Europa gilt seit 2002 als frei von Poliomyelitis (BAG, 2019d). Die Häufigkeit von gemeldeten Haemophilus-influenzae-Fällen blieb konstant und nur ein kleiner Anteil davon betraf Kinder; bis zum Alter von 24 Jahren werden jährlich weniger als 20 Fälle verzeichnet.

     Keuchhusten (Pertussis) wird seit 1991 im Sentinella-Meldesystem erfasst. Von 1991 bis 2006 wurden 4992 Fälle gemeldet. Der Grossteil der Fälle fiel in die Altersgruppe der 5–9-Jährigen (46,2%) und circa je ein Viertel waren 1 bis 4 Jahre (25,1%) respektive über 20 Jahre (21,7%) alt, weitere 7% waren unter 1 Jahr alt (Wymann et al., 2011). In Tabelle T4.8 werden die Daten von 2000 bis 2006 dargestellt. 2006 lag die Melderate für die gesamte Bevölkerung der Schweiz so tief wie noch nie, was auf eine zunehmende Durchimpfungsrate hinweist (BAG, 2018b; siehe auch Kapitel Gesundheitsversorgung). 2014 wurden 283 klinische Fälle gemeldet (BAG, 2016); 33 davon wurden hospitalisiert, 2015 ähnlich viele (INFOVAC, 2019). Seitdem sind die Zahlen erneut steigend: Im Jahr 2016 wurden deutlich mehr wegen der Diagnose Keuchhusten hospitalisiert, nämlich 446 Kinder.

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T4.8

     Die Sentinella-Daten belegen, dass die Fälle im Jahr 2014 vermehrt die über 20-Jährigen betreffen, was auf eine abnehmende Immunität im Verlauf der Adoleszenz und des jungen Erwachsenenalters hinweist. Deswegen sind seit 2016 Auffrischimpfungen im Jugend- und Erwachsenenalter empfohlen (BAG, 2016, 2019c).

Atemwegsinfektionen


Typisch im Kleinkindalter sind Erkrankungen der Atemwege. Es sind dies die häufigsten Erkrankungen. Das ist einerseits darauf zurückführen, dass Kinder erstmals mit Erregern konfrontiert werden und die spezifische Immunität noch ausbilden müssen, und andererseits, dass die Atemwege anatomisch noch eng und klein sind, was Entzündungen begünstigt. Betroffen von Infektionen sind sowohl die oberen Atemwege, Rachen und Nasennebenhöhlen sowie die tiefen Atemwege, also die grossen und kleinen Bronchien, ebenso das Lungengewebe. Auch Mittelohrentzündungen hängen mit Infektionen der oberen Atemwege im Rachenraum zusammen.

     Schätzungen zufolge erlebt jedes Kind in seinem jungen Leben multiple Atemwegs­infektionen, von denen die allermeisten unkompliziert sind. Eine geringe Zahl an Kindern bedarf ambulanter Behandlung, Medikation oder muss hospitalisiert werden. Bei gesunden Kindern nehmen Atemwegsinfektionen mit zunehmendem Alter ab. Risikofaktoren für Atemwegserkrankungen stellen sowohl Umweltfaktoren, Luftqualität und Tabak-Exposition (La Grutta et al., 2013; Vanker, Gie & Zar, 2017) als auch individuelle Prädispositionen dar. Die wissenschaftliche Evidenz aus Kohortenstudien deutet daraufhin, dass frühe schwerwiegende Infektionen der Atemwege mit höherem Risiko späterer respiratorischer Erkrankungen einhergehen (Martinez, 2016).

     Für die Schweiz liegen insgesamt wenig epidemiologische Daten zu Atemwegserkrankungen oder Mittelohrentzündungen im Kindes- und Jugendalter vor. In Anlehnung an ausländische Studien und medizinische Lehrbücher ist davon auszugehen, dass die häufigste Atemwegserkrankung der ersten Lebensjahre die akute Bronchiolitis ist, die überwiegend viraler Ursache ist (RS-Virus) (Barben et al., 2008). Nur ein geringer Prozentsatz der betroffenen Kinder – 1–2% – benötigt eine Hospitalisation (Barben et al., 2008; Trefny et al., 2000). Bronchitiden treten meist im Schulalter auf und sind häufiger bakterieller Ursache. Die deutsche KiGGS-Studie ergab eine Lebenszeitprävalenz von 13,3% obstruktiver Bronchitiden.

     Pneumonien (Lungenentzündung) sind im Kindesalter ebenfalls relativ häufig (Kamtsiuris et al., 2007). In der Schweiz wurden 2017 1361 Kinder im Alter von 1–14 Jahren wegen einer Pneumonie hospitalisiert (BFS, 2017). Eine internationale Studie hat die Inzidenz und den «burden of disease» (Krankheitslast) für verschiedene WHO-Regionen errechnet. Demnach ist in der Schweiz von 3 bis 5 akuten Mittelohrentzündungen auf 100 Kinder auszugehen (Monasta et al., 2012). Die KiGGs-Studie aus Deutschland publiziert eine Lebenszeitprävalenz (Häufigkeit bezogen auch die bisher gelebte Lebenszeit) für Mittelohrentzündung von 38% (95%-KI: 35–40%) bei 1- bis 3-Jährigen und 57% bei 4- bis 6-Jährigen (55–59%); die überwiegende Mehrheit erhielt Antibiotika (Kamtsiuris et al., 2007).

Zeckenübertragene Krankheiten


Die beiden häufigsten von Zecken übertragenen Erkrankungen sind die Frühsommer-Menin­goenzephalitis (FSME) und die Borreliose. Ebenfalls meldepflichtig ist die weit seltenere aber zunehmende Tularemie, eine bakterielle Erkrankung, die auch als «Hasen­pest» bekannt ist. Zecken sind auch Träger anderer, seltenerer Erkrankungen, die auf Grund ihrer Seltenheit oder geringeren Ernsthaftigkeit in der Schweiz nicht überwacht werden.

Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME)


Die FSME ist eine durch Zecken übertragene Meningoenzephalitis (Meningo=Hirnhaut; Enzephalitis=Gehirnentzündung). Der Erreger ist das FSME-Virus. In den meisten Regionen der Schweiz sind infizierte Zecken endemisch. Die Übertragung erfolgt durch einen Stich einer befallenen Zecke. Seit 1988 sind FSME-Fälle zunehmend und meldepflichtig (siehe Grafik G4.2). Ursächlich sind veränderte klimatische Bedingungen (Klimaerwärmung) und das Freizeitverhalten der Bevölkerung im Freien. Im Jahr 2010 ergab eine nationale Studie, dass je nach Region 0,17–1,89% der Zecken mit FSME befallen waren, im Mittel entsprach das einem Befall von 0,44% der Zecken in der Schweiz (Gaumann et al., 2010). Aktuell wird von einer Verdoppelung auf 1% ausgegangen (www.invovac.ch). Die Infektion kennt zwei Altersgipfel: Kinder im Alter von 6–14 Jahren und 60–69-Jährige (Schuler et al., 2014). Kinder unter 6 werden selten infiziert.

Die Zahl der FSME-Fälle in der Schweiz ist steigend. Dies wird unter anderem auf die klimabedingte Ausweitung der Risikogebiete und das veränderte Freizeitverhalten der Bevölkerung zurückgeführt.

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G4.2

     Die Impfung gegen FSME wird für alle Personen empfohlen (im Allgemeinen ab 6 Jahren), die in Risikogebieten wohnen oder sich dort zeitweise aufhalten und die ein Expositionsrisiko haben (Aufenthalt in Zeckenbiotopen). Sie wird in drei Dosen verabreicht und von der Grundversicherung übernommen (www.infovac.ch). Der Anteil geimpfter 8-Jähriger blieb in der Erhebungsperiode 2014–2016 praktisch unverändert: Er betrug gesamtschweizerisch 26% und 38% in Risikogebieten (drei Dosen). Bei den 16-Jährigen hat die FSME-Impfrate gegenüber früheren Jahren zugenommen, gesamtschweizerisch liegt sie bei 39%, in den Risikogebieten bei 45% (BAG, 2018b).

Lyme-Borreliose


Erreger der Lyme-Borreliose oder Lyme-Krankheit ist das Bakterium Borrelia burgdorferi. In der Schweiz sind rund 5–30% (stellenweise bis 50%) der Zecken mit Borrelia burgdorferi infiziert. Das Bundesamt für Gesundheit geht davon aus, dass in der Schweiz jährlich 10 bis 1000 Personen an einer Borreliose erkranken (www.bag.admin.ch). Lyme-Borreliose kann bei früher Erkennung antibiotisch erfolgreich behandelt werden, die chronische Form wird häufig erst spät diagnostiziert und geht mit erheblicher Krankheitslast einher.

     Arztbesuche aufgrund eines Zeckenstichs und akute Borreliose werden vom Sentinella-­Meldesystem erfasst (Grafik G4.3). Eine altersdifferenzierte Auswertung der Sentinella-Daten ist nicht veröffentlicht. Im Jahr 2017 wurden 158 Personen wegen Lyme-Erkrankung hospitalisiert, davon 27 Kinder im Alter 0–14 Jahren (BAG, 2018c, 2019c). Bei den hospitalisierten Fällen handelt es sich mit grösster Wahrscheinlichkeit um chronische Lyme-Erkrankungen. Die tatsächliche Prävalenz der chronischen Borreliose ist nicht bekannt und liegt sicher höher.

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G4.3