6.6 Neurologische Erkrankungen

Epilepsie


Unter Epilepsie werden verschiedene Krankheitsbilder zusammengefasst, die das Nervensystem betreffen. Sie gehören zu den häufigsten Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen (Freitag et al., 2001). Die Inzidenz der Epilepsie ist bei Kleinkindern/Kindern und bei Seniorinnen und Senioren gegenüber den anderen Altersgruppen am höchsten (Fiest et al., 2017). Die verschiedenen Anfallstypen, Übergänge von einem Typus zum anderen und die Abgrenzung zu Fieberkrämpfen machen die Prävalenzmessung der Epilepsie zu einer Herausforderung (Cowan, 2002). Es ist zudem nicht unüblich, dass Epilepsien sich im Verlauf der Kindheit «auswachsen».

     Die letzte Inzidenzstudie wurde in der Schweiz in den neunziger Jahren im Kanton Genf durchgeführt (Jallon et al., 1997), wobei eine Inzidenz von 71 pro 100 000 0- bis 10-Jährige und 66,6 pro 100 000 Jugendliche festgestellt wurde. Prävalenzdaten aus Europa liegen zwischen 320 und 510 pro 100 000 Kinder und Jugendliche unter 20 Jahren (Forsgren et al., 2005). Im Kinder- und Jugendbericht Deutschland aus dem Jahr 2018 (Greiner et al., 2018) wurde anhand von Versicherungsdaten aus dem Jahr 2016 über eine Periodenprävalenz (12 Monate) von 700 Fällen pro 100 000 Kinder und Jugendlichen berichtet.

Epilepsie ist eine relativ häufige Erkrankung im Kindes- und Jugendalter, jedoch fehlen in der Schweiz aktuelle Daten.

Zerebralparese


Zerebralparese (CP) ist ein Sammelbegriff für eine Gruppe von Erkrankungen der kindlichen Entwicklung, die auf einer Schädigung des Gehirns vor, während oder nach der Geburt beruhen (Surveillance of Cerebral Palsy in Europe, 2000). Sie betrifft die Entwicklung insbesondere der motorischen, mentalen, urogenitalen und reproduktiven Funktionen, aber auch der Sinnesfunktionen (Rosenbaum et al., 2007). CP ist eine der häufigsten kindlichen Erkrankungen, die eine körperliche Behinderung zur Folge haben.

     Für die gesamte Schweiz liegen derzeit keine aktuellen Studien zur Prävalenz vor. Ein CP Register ist derzeit in Entwicklung (A. Tscherter, persönliche Kommunikation, 5. Februar 2019). Eine Untersuchung im Kanton St. Gallen im Zeitraum zwischen 1995 und 2009 bei Kindern von 0–4 Jahren zeigte eine Prävalenz von 190 von 100 000 Personen (Forni et al., 2018). In Europa beläuft sich laut einem europäischen Register für CP, dem Surveillance of Cerebral Palsy in Europe (SCPE), die Prävalenz auf 222 von 100 000 Personen (Surveillance of Cerebral Palsy in Europe, 2000).

Fallvignette: Alma hat eine Zerebralparese.

Alma war sechs Monate alt, als ihren Eltern auffiel, dass sich ihre Entwicklung deutlich von der ihrer älteren Schwester unterschied. Ihr Kinderarzt überwies Alma an einen Neuropädiater. Dieser stellte verstärkte Reflexe, eine verminderte Kraft und Beeinträchtigungen in der aktiven Beweglichkeit fest, typische Anzeichen für eine Zerebralparese. Die häufigste Ursache ist Sauerstoffmangel kurz vor, während oder nach der Geburt. Bei Alma kam es wahrscheinlich bei der Geburt zu einer Abklemmung der Nabelschnur und einer verminderten Sauerstoffversorgung. Mittlerweile ist Alma fünf Jahre alt. Sie besucht den Kindergarten im Dorf und wird dort von einer Heilpädagogin unterstützt. Für ihre Integration in den Regelkindergarten zusammen mit den Kindern aus ihrer Nachbarschaft mussten die Eltern sich sehr einsetzen. Die zuständige Schulbehörde hatte Alma für den Kindergarten für Kinder mit Zerebralparese in der 20 Kilometer entfernten Grossstadt vorgemerkt. Alma fühlt sich im Dorf-Kindergarten aber wohl. Sie merkt, dass sie anders ist als die anderen Kinder. Zum einen, weil sie eine Schiene am Unterschenkel trägt, zum Laufen einen Rollator braucht und beim Malen und Basteln ungeschickter ist, zum anderen, weil sie immer noch Windeln braucht. Wird sie von den anderen Kindern gehänselt, macht sie das traurig. Sie hat jedoch auch viele Freunde, denn sie ist fröhlich, kommunikativ und hat viel Phantasie. Nach dem Kindergarten geht Alma zweimal in der Woche zur Ergo- oder Physiotherapie. Sie übt Alltagstätigkeiten: Anziehen, Spielen, Basteln und Laufen. Regelmässige Termine hat sie auch beim Orthopädietechniker und in der Neuropädiatrie. Medikamente braucht sie keine, nur manchmal spritzt ihr ihre Neuropädiaterin Botulinum-Toxin in den Unterschenkel, damit sich die Beinmuskulatur entspannt und sie besser gehen kann.

            Almas Eltern fühlen sich von den verschiedenen Fachpersonen gut unterstützt und sehen, dass Alma Fortschritte macht. Doch wissen sie auch, dass Alma nicht geheilt werden kann. Ihre Einschränkungen werden in der Jugend und im Erwachsenenalter fortbestehen. Am meisten sorgen sich ihre Eltern um den schulischen und beruflichen Werdegang von Alma, sie soll doch selbständig für sich sorgen können. Almas Zerebralparese betrifft nicht nur sie selbst, sondern ihre ganze Familie. Die Sorge um Alma, die Einstellungen und Werte anderer Menschen und Entscheidungsträger in Bezug auf ihr Kind mit Behinderung erleben die Eltern häufig als energiezehrend. Almas Mutter leidet an Depressionen und nimmt eine monatliche Psychotherapie in Anspruch. Die ältere Tochter fühlt sich manchmal vernachlässigt. Ausserdem entstehen viele Kosten, die nur teilweise durch die Invalidenversicherung gedeckt werden. So mussten sie ihr Haus umbauen, damit sich Alma mit dem Rollator dort selbständig bewegen kann. Almas Familie ist in eine Selbsthilfegruppe für Familien mit Kindern mit Zerebralparese beigetreten. Dort finden sie Unterstützung, ihr Leben mit Behinderung zu meistern und so weit wie möglich am ganz normalen gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können.