9.6 Sexuelle Gesundheit

Gesundheit im Bereich der Sexualität ist bedeutsam sowohl für körperliche wie für psychische Gesundheit; sie beeinflusst das Wohlbefinden und die Lebensqualität entscheidend mit. Die sexuelle Entwicklung startet vor der Geburt, beispielsweise mit der Herausbildung der Nervenbahnen für Sinnesorgane und Empfindungen. Und sie umfasst mehrere Dimensionen, wobei je nach Alter biologische, soziale, psychologische, kognitive, affektive, sinnliche, kulturelle, moralische oder spirituelle Entwicklungsaspekte im Vordergrund stehen (Expertenbericht Sexualaufklärung, 2017). Entsprechend fordern internationale Abkommen eine «ganzheitliche» Sexualaufklärung für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene; das heisst eine Sexualaufklärung, welche nicht nur auf den Schutz vor gesundheitlichen Risiken fokussiert, sondern auch die gesunde Entwicklung fördert (Bericht des Bundesrats, 2018). Die Schweiz unterstützt die entsprechenden internationalen Abkommen.

Interventionen und Vernetzung


Die Eltern sind die ersten und primären Verantwortlichen für die sexuelle Entwicklung ihrer Kinder. Einzelne Kantone, spezialisierte Nichtregierungsorganisationen – wie die Stiftung Sexuelle Gesundheit Schweiz – und regionale Fachstellen der Sexualpädagogik unterstützen Eltern in ihrer Aufgabe mit Elternbildung, Informationen und Beratungen. Ergänzend zu den Eltern tragen die Kantone die Verantwortung für die schulische Sexualaufklärung. Die drei überregionalen Lehrpläne der Schweiz20 beschreiben die Inhalte der Sexualaufklärung in den Schulen (Lehrplan 21, Plan d'études romand, und Piano di studio). Zur Sexualaufklärung entwickelte sich von Beginn an, das heisst seit Anfang des 20. Jahrhunderts auch eine öffentliche Debatte. Diese dreht sich vorwiegend um die Werte, welche die Sexualaufklärung vermitteln soll, und sie dauert bis heute an (Ruckstuhl, 2018). Nebst den Eltern und Schulen tragen eine Vielzahl von weiteren Akteuren und Angeboten zur Sexualaufklärung bei. Gemäss einer aktuellen Studie spielen auch Gleichaltrige und das Internet eine wichtige Rolle als Informationsquelle (Barrense-Dias et al, 2019). Weiter werden Jugendliche und junge Erwachsene in individuellen Beratungen auf Fachstellen der sexuellen Gesundheit und in Beratungen durch Ärztinnen und Ärzte aus der Adoleszentenmedizin, Gynäkologie, Psychiatrie usw. in ihrer sexuellen Entwicklung unterstützt. Auch kommerzielle Medien sprechen mit Inhalten aus dem Themenbereich Sexualität junge Menschen an.

     Die Stiftung Sexuelle Gesundheit Schweiz vernetzt die Fachstellen der sexuellen Bildung und Beratung der ganzen Schweiz. Die Vernetzung mit und unter den schulischen sowie mit den weiteren Akteuren ist jedoch eine Herausforderung. In der Romandie sind die verschiedenen Akteure besser vernetzt als in der Deutschschweiz (Expertenbericht Sexualaufklärung, 2017).

     Das Angebot im Bereich der Sexualaufklärung ist vielfältig und je nach Landesregion unterschiedlich. Eine Übersicht mit Fokus auf die schulische Sexualaufklärung liefert der Expertenbericht von 2017 (Expertenbericht Sexualaufklärung, 2017). Daraus seien hier die überregionalen Regelstrukturen sowie ergänzende Internet- und Peer-Angebote erwähnt:

  • Die Volksschulen vermitteln eine stufengerechte Sexualaufklärung. In allen drei sprachregionalen Lehrplänen lassen sich die Inhalte zur sexuellen Gesundheit in folgende Kategorien zusammenfassen: Körper und Sexualverhalten, sexuelle und reproduktive Gesundheit – das heisst Schwangerschaft und Verhütung, Geburt, Elternschaft, Schwangerschaftsabbruch, HIV und andere sexuell übertragbare Infektionen sowie Schutz vor Infektionen – Freundschaft, Liebe, Lust, Beziehungen, Partnerschaft, Gender, sexuelle Identitäten und Orientierung, Prävention von sexueller Gewalt, Gesellschaft und Medien.
     
  • Die Umsetzung der Lehrpläne erfolgt unterschiedlich: in der Romandie durch spezifisch ausgebildete Fachpersonen (in Sexualpädagogik), in der Deutschschweiz und im Tessin durch Lehrpersonen, welche teilweise sexualpädagogisch ausgebildete Fachpersonen von schulergänzenden externen Fachstellen beiziehen können.
     
  • Für die deutsch- und französischsprechenden Jugendlichen gibt es Webseiten mit jugendgerechten Informationen zu Fragen der Sexualität: www.lilli.ch, www.tschau.ch, www.feelok.ch und www.ciao.ch.
     
  • In der Deutschschweiz und in der Romandie existieren mehrere Peer-Projekte, das heisst Angebote von jungen Menschen für junge Menschen zur Sexualaufklärung. Beispiele sind «Georgette in Love» (Waadt), «du bist du» (Deutschschweiz), «ABQ» (Bern), «Achtung Liebe» (Basel, Bern, Zürich).

    
Weiter seien schulergänzende Angebote auf schweizerischer und kantonaler Ebene erwähnt, zu welchen Untersuchungen zur Wirkung vorliegen beziehungsweise in Erarbeitung sind:

  • Evaluationen des nationalen Programms «Herzsprung – Freundschaft, Liebe und Sexualität ohne Gewalt» beziehungsweise «Sortir Ensemble et Se Respecter» zur Gewaltprävention und Kompetenzerweiterung in jugendlichen Paarbeziehungen zeigen viele Qualitäten des Programms auf, orten aber auch Verbesserungspotenzial (Haab Zehrê 2015, Minore 2016). Entsprechend wurde «Herzsprung» 2017 weiterentwickelt. Zum Zeitpunkt der Erstellung des vorliegenden Gesundheitsberichts läuft eine nationale Evaluation von «Herzsprung» und «Sortir Ensemble et Se Respecter»; die Publikation des Berichts ist per Ende August 2020 geplant.
     
  • Eine Evaluation von 2018 zu einem schulergänzenden Angebot der Stiftung Berner Gesundheit zeigt eine positive Wirkung. Gemäss der Befragung der Jugendlichen führt die schulergänzende Sexualaufklärung zu einem verantwortungsbewussteren, sichereren und selbstbestimmteren Umgang mit Sexualität. Die Befragung der Lehrpersonen zeigt, dass sie direkt im Schulalltag eine positive Wirkung wahrnehmen (Wetz, Schnyder-Walser, 2018).


     Internationale Studien zur Wirksamkeit der Sexualaufklärung zeigen, dass die «ganzheitliche» Sexualaufklärung die beste Evidenz hinsichtlich Verbesserung einer Vielzahl gesundheitlicher und psychosozialer Indikatoren hat. Es handelt sich hierbei um einen Ansatz, welcher nicht einseitig auf Abstinenz oder auf Risikoreduktion setzt, sondern welcher die Risikoreduktion in einen grösseren Zusammenhang von persönlicher und sexueller Entwicklung stellt und Gesundheitsförderung miteinschliesst (Expertenbericht Sexualaufklärung, 2017).

Internationale Studien zur Wirksamkeit der Sexualaufklärung zeigen, dass die «ganzheitliche» Sexualaufklärung die beste Evidenz hinsichtlich Verbesserung einer Vielzahl gesundheitlicher und psychosozialer Indikatoren hat.

     Für die Schweiz gibt es wenig Forschung zu den Auswirkungen der unterschiedlichen Modelle und Angebote der Sexualaufklärung (Expertenbericht Sexualaufklärung, 2017). Die aktuellste Studie bezieht sich auf die Sexualaufklärung in der Schule. Sie weist einen positiven Einfluss auf die sexuelle Gesundheit nach. Befragte, welche die Schule als Hauptinformationsquelle zu Themen der Sexualität nannten, waren am wenigsten häufig von sexuell übertragbaren Infektionen betroffen (Barrense-Dias et al, 2019). Wie die gleiche Studie zeigt, nutzen jedoch männliche und nicht-heterosexuelle Jugendliche öfter als andere Jugendliche das Internet als Informationsquelle. Das lässt vermuten, dass die schulische Sexualaufklärung weniger auf deren Bedürfnisse ausgerichtet ist. Auch Jugendliche, deren Pubertät besonders früh oder spät einsetzt, informieren sich häufiger als andere im Internet.

     Mit Blick auf die Interventionen besteht vielseitiger Handlungsbedarf: so bei der Entwicklung von konzeptuellen Grundlagen, Begriffsdefinitionen, Zielen und Werten für die gesamte Schweiz, im Harmonisierungsprozess der Sexualaufklärung in der Deutschschweiz in der Ausbildung der Lehrpersonen, in der Entwicklung von pädagogischen Materialien, bei der Forschung zur Wirkung der Sexualaufklärung und in der internationalen Vernetzung der zuständigen Akteure (Expertenbericht Sexualaufklärung, 2017).

Strategien des Bundes und Öffentlichkeitsarbeit


Im Bereich der sexuellen Gesundheit ist der Bund nur in beschränkten Bereichen zuständig. Die Zuständigkeit des Bundes im Bereich der sexuellen Gesundheit ist im Epidemiengesetz festgeschrieben und beschränkt sich auf die Überwachung, Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten. Der Bund ist dementsprechend verantwortlich für das Nationale Programm HIV und andere sexuell übertragbare Infektionen (NPHS.) Er pilotiert in diesem Rahmen die nationale Präventionskampagne LOVE LIFE zur Bekanntmachung von «Safer Sex»-Botschaften, das heisst Informationen zum Schutz vor sexuell übertragbaren Infektionen. Ausserdem führt er die Nationale Strategie zu Impfungen (NSI). Diese Strategie trägt zur Prävention der sexuell übertragbaren Infektion mit Humanen Papillomaviren (HPV) und zur Prävention von Hepatitis A und B bei.