9.7 Ausblick

Zahlreiche wirkungsvolle Projekte und Massnahmen für Kinder und Jugendliche werden in der Schweiz umgesetzt. Dennoch gibt es für die Zukunft einige Herausforderungen.

     Ein zentrales Thema im Bereich Gesundheitsförderung und Prävention ist die gesundheitliche Chancengleichheit von Kindern und Jugendlichen (siehe Kapitel Lebenswelten, Umweltfaktoren und gesellschaftliche Rahmenbedingungen). In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach der Erreichbarkeit bestimmter Zielgruppen. Es ist unerlässlich, in Erfahrung zu bringen, mit welchen Mitteln und über welche Kanäle eine Zielgruppe (insbesondere vulnerable Zielgruppen mit reduzierten gesundheitlichen Chancen) erreicht werden kann. Innovative Ansätze, die diese Fragen adressieren, sind zu entwickeln und zu verbreiten.

     Die Partizipation der Zielgruppen kristallisiert sich konsistent als Erfolgsfaktor von gesundheitsförderlichen und präventiven Massnahmen heraus. Die Möglichkeit, bei der Entwicklung und Umsetzung mitzureden und eventuell gar mitzuentscheiden, ist auch für Kinder und Jugendliche sowie ihre Bezugspersonen wichtig. Kleinere Kinder sinnvoll in einen partizipativen Entwicklungsprozess einzubeziehen, stellt eine besondere Herausforderung dar, aber auch dies ist für eine wirkungsvolle Umsetzung von gesundheitsförderlichen Massnahmen wichtig.

Es ist unerlässlich, in Erfahrung zu bringen, mit welchen Mitteln und über welche Kanäle Zielgruppen erreicht werden können.

     Es gibt regionale Unterschiede in Bezug auf gesundheitsförderliche und präventive Massnahmen, so ein namhafter Stadt-Land-Unterschied in den Angeboten. Ländliche Regionen sind mit einer geringen Bevölkerungsdichte und den grösseren Distanzen besonders herausgefordert, Massnahmen einigermassen flächendeckend umzusetzen und Angebote so für alle zugänglich zu machen.

     Es ist wichtig, für bestimmte Bereiche die Datengrundlagen zu verbessern, beispielsweise bei der psychischen oder sexuellen Gesundheit. Dadurch können Zielgruppen besser abgegrenzt, Wirkungen von Interventionen gemessen und Gesamtevaluationen durchgeführt werden.

     Schliesslich lohnt sich, gerade für ein kleines Land wie die Schweiz, ein Blick über den Zaun, um von internationalen Erfahrungen zu lernen. So konnten einige Projekte aus dem Ausland erfolgreich in die Schweiz geholt werden. Ein gelungenes Beispiel ist die Multiplikatorenfortbildung zum Thema Kinder aus suchtbelasteten Familien, welche aus Deutschland übernommen und für die Schweiz adaptiert wurde. Sie konnte bereits mehrere Jahre durchgeführt werden. Aufgrund des föderalistischen Systems der Schweiz bleibt es aber eine Herausforderung, Projekte aus anderen Ländern für die Schweiz zu adaptieren.

     Im Folgenden werden vier Handlungsoptionen vorgeschlagen. Es handelt sich hierbei um themenübergreifende Empfehlungen, die aufzeigen, wo noch mehr investiert werden sollte und wo konkrete Schritte eine möglichst grosse Wirkung erzielen könnten.

1. Stärkung des multisektoriellen Ansatzes


Ein multisektorieller Austausch ist gerade bei Kindern und Jugendlichen enorm wichtig. Dies zeigt sich in den nachstehenden Beispielen:

  • Schule und Gesundheit: Viele Gesundheitsförderungs- und Präventionsprojekte spielen sich im Umfeld der Schule ab. Das Argument der Chancengleichheit ist im schulischen Setting überzeugend, denn hier können praktisch alle Kinder abgeholt werden.
     
  • Städtebau und Gesundheit: Um die Bewegung von Kindern und Jugendlichen zu fördern, ist das Umfeld so zu gestalten, dass es Bewegung überhaupt ermöglicht und andererseits auch dazu einlädt, sich zu bewegen.
     
  • Wirtschaft und Gesundheit: Ein zentraler Zeitpunkt im Leben von Jugendlichen ist der Übergang von der Schule ins Erwerbsleben. Dieser Übergang bedeutet häufig einen massiven Einschnitt. Die Berufswahl und die eigene Stellung in der (Erwerbs-) Gesellschaft sind zentral für die Identitätsentwicklung und eine wichtige Entwicklungsaufgabe der Adoleszenz.

2. Stärkung des salutogenen Ansatzes


Es liegt ein grosses Potenzial in der Stärkung des salutogenen Ansatzes nicht nur in der Gesundheitsförderung und Prävention, sondern über die gesamte Behandlungskette hinweg. Das bedeutet, dass diese gesundheitszentrierte Sichtweise auch im Versorgungssystem eine gewichtigere Rolle übernehmen sollte als bis anhin (BAG & Gesundheitsförderung Schweiz, 2017). Mit dem Massnahmenbereich «Prävention in der Gesundheitsversorgung» der NCD-Strategie wurde ein erster Schritt in diese Richtung in der Schweiz unternommen. Eine Ausbreitung dieses Ansatzes steht aber noch bevor.

     Vielversprechend ist der salutogene Ansatz im Versorgungssystem, wenn die Grenzen zwischen der somatischen und psychiatrischen Versorgung durchlässig werden. In der somatischen Versorgung liegt Potenzial für die Prävention von psychischen Störungen und umgekehrt. Das Beispiel eines Jugendlichen mit Typ 1-Diabetes zeigt, dass es wichtig ist, bei der Diagnosestellung (und evtl. auch später) eine psychologische Unterstützung zu bieten. Denn der Einschnitt – und damit ist unter anderem die Akzeptanz, mit einer chronischen Erkrankung zu leben und diese als Teil des Selbst anzunehmen, gemeint – in das tägliche Leben ist in einer Phase der Identitätsfindung besonders gravierend und kann unter anderem Depressionen auslösen (Pinquart & Shen, 2010).


3. Stärkung der systemischen Sichtweise und Setting-übergreifende Ansätze


Kinder und Jugendliche müssen in ihrem Umfeld betrachtet werden, wenn die Gesundheit im Fokus steht. Ihre Gesundheitskompetenzen sind massgeblich von den Gesundheitskompetenzen, den gesundheitsförderlichen Gewohnheiten und den Möglichkeiten ihrer Bezugspersonen abhängig. Um Kinder und Jugendliche anzusprechen, ist die Schule ein ideales Setting, weil (fast) alle erreicht werden. Doch ist es wichtig, die Schülerinnen und Schüler nicht isoliert zu betrachten. Eltern, Geschwister, Freundinnen und Freunde und andere Bezugspersonen sind in den gesundheitsförderlichen und präventiven Massnahmen miteinzubeziehen oder zumindest mitzudenken. Dies zeigt sich am Beispiel der Young Carers gut (siehe Kapitel Young Carers). Auch in der Prävention für Kinder und Jugendliche zeigt sich, dass Setting-übergreifende Ansätze, die auch die Eltern, das Umfeld der Kinder und Jugendlichen und die strukturellen Gegebenheiten einbeziehen, die wirksamsten sind.


4. Stärkung der Chancengleichheit


Im Hinblick auf die wachsende Diversität in der Gesellschaft wird die Frage der Chancengleichheit noch wichtiger werden. Folgende Faktoren: können zu sozialer Benachteiligung führen: tiefer sozioökonomischer Status (Bildung, Einkommen, Vermögen, Berufsstatus), Gender, Migration, sexuelle Orientierung und Genderidentität. Es ist besonders auf eine Überschneidung dieser Faktoren zu achten. So führt beispielsweise die Überschneidung der Merkmale weibliches Geschlecht und tiefes Einkommen zu einer verschärften Benachteiligung (Weber 2019).

     Der Frage der Erreichbarkeit muss bei Gesundheitsförderungs- und Präventionsmassnahmen mehr Beachtung geschenkt werden. Es ist wichtig, (neue) Möglichkeiten zu finden, die ungleichen gesundheitlichen Chancen zu beseitigen oder zumindest abzuschwächen.