5.1 Einleitung

Das Kapitel gibt einen Überblick über die Epidemiologie psychischer Gesundheit und Krankheit von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz. Psychische Gesundheit – im Sinne von Wohlbefinden und Lebensqualität – und Prävalenzen (Häufigkeiten) verschiedener psychischer Erkrankungen sowie psychischer Auffälligkeiten werden dargestellt. Hierzu werden die wichtigsten empirischen Studien, welche Zahlen zur schweizweiten Situation liefern, aufgearbeitet und die aktuellsten nationalen Daten der Schweizerischen Gesundheitsbefragung (SGB 2017) und der Schweizer Schülerinnen- und Schülerbefragung zum Gesundheitsverhalten (Health Behaviour in School-aged Children; HBSC 2018) analysiert. Zudem werden Zahlen zu Suizid als Todesursache präsentiert. Die psychiatrische/psychologische Versorgungssituation für Kinder und Jugendliche wird an anderer Stelle beschrieben (vgl. Kapitel Gesundheitsversorgung).

Psychische Gesundheit und Krankheit


Definition und Bedeutung


Psychische Gesundheit ist ein bedeutender Aspekt des Wohls von Kindern und Jugendlichen, und sie hängt eng mit der körperlichen Gesundheit zusammen. Gemäss Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist psychische Gesundheit:

«Ein Zustand des Wohlbefindens, in dem der Einzelne seine Fähigkeiten ausschöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv und fruchtbar arbeiten kann und imstande ist, etwas zu seiner Gemeinschaft beizutragen.» (WHO, 2004, S. 12).

     Wohlbefinden umfasst gemäss Keyes (2002) drei Bereiche: (1) Subjektives/emotionales Wohlbefinden bezieht sich auf positive Gefühle und Lebenszufriedenheit; (2) Psychologisches Wohlbefinden fokussiert auf persönliches Wachstum, Autonomie, Funktionsfähigkeit im Alltag; (3) Soziales Wohlbefinden umfasst das optimale Funktionieren in der Gesellschaft und in Gruppen (z. B. soziale Akzeptanz, Integration, Gesellschaft als stimmig und sinnvoll wahrnehmen). Psychisch gesunde Personen blühen auf, haben eine hohe Lebenszufriedenheit, erleben positive Emotionen und funktionieren psychisch und sozial gut.

     Im Gegensatz dazu stehen psychische Erkrankungen – in der klinischen Psychologie oftmals als psychische Störungen bezeichnet. Sie beinträchtigen die Funktionsfähigkeit des menschlichen Erlebens und Verhaltens und schränken einen Menschen in seinem Alltag ein. Sie können sich auf emotionaler, kognitiver, interpersonaler und körperlicher Ebene sowie auf sein Verhalten auswirken und gehen einher mit akutem Leiden oder einem deutlich erhöhten Risiko, Schmerz und Verlust an Freiheit oder Lebensqualität zu erleiden (Bastine, 1998; Sass et al., 1996).

     Für die Beurteilung von psychischer Krankheit bei Kindern und Jugendlichen muss zwingend berücksichtigt werden, dass diese sich in einer Phase der Entwicklung befinden. In keiner anderen Lebensphase finden derart viele und schnelle Veränderungen hinsichtlich körperlicher Reife sowie geistiger und emotionaler Entwicklung statt wie im Kindes- und Jugendalter. In diesem Alter können deshalb einerseits andere psychische Erkrankungen im Mittelpunkt stehen als bei Erwachsenen, andererseits können die Auffälligkeiten entwicklungsbedingt sein und damit nicht Ausdruck einer psychischen Störung.

«Eine psychische Störung bei Kindern und Jugendlichen liegt vor, wenn das Verhalten und/oder Erleben bei Berücksichtigung des Entwicklungsalters abnorm ist und/oder zu einer Beeinträchtigung führt. […] Ohne die Kenntnis normaler Entwicklungsabläufe beim Kind und Jugendlichen ist ein Verständnis psychischer Störungen in diesem Lebensabschnitt nicht möglich.» (Steinhausen, 2016, S. 23)

     Gemäss internationalen Studien gehören psychische Erkrankungen zu den häufigsten Erkrankungen in der Kindheit und Jugend (Hölling et al., 2014). Rund 10 bis 20% der Kinder und Jugendlichen weisen zu einem bestimmten Zeitpunkt eine psychische Erkrankung auf (z. B. Barkmann & Schulte-Markwort, 2004; Fombonne, 2002; Petermann, 2005). Mit professionellen Hilfseinrichtungen in Kontakt kommen allerdings nur 10 bis 30% der betroffenen Kinder und Jugendlichen (Fombonne, 2002; Petermann, 2005).

     Die psychischen Probleme können sich auf alle Lebensbereiche der Kinder und Jugendlichen auswirken: Sie behindern im schulischen Kontext, in Beziehungen zu Familie und Freunden sowie beim Finden des eigenen Wegs ins Leben.

     Zwischen den psychosozialen Auffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter und denen im Erwachsenenalter gibt es einen engen Zusammenhang (World Health Organization, 2001). Unbehandelte psychische Erkrankungen sind in vielen Fällen bis ins Erwachsenenalter persistent; es besteht das Risiko der Chronifizierung und auch der Entwicklung von Komorbiditäten (z. B. McGue et al., 2006; Reef et al., 2009; Kessler et al., 2012). Der Grossteil der psychischen Erkrankungen beginnt bereits im Kindes- und Jugendalter beziehungsweise im frühen Erwachsenenalter. Rund die Hälfte der Fälle manifestiert sich bis zum Alter von 14 Jahren, drei Viertel der Fälle bis zum Alter von 24 Jahren (Kessler, 2005). Zudem erhöhen psychische Probleme das Risiko für Suizid (vgl. Abschnitt 5.3 Suizidversuche und Suizide). Gemäss Schätzungen der WHO steht ein wesentlicher Anteil aller Suizide in Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen (Krug et al., 2002), insbesondere mit Depressionen (Wolfersdorf, 2008).

            Neben dem Leid für die Direktbetroffenen führen psychische Erkrankungen meist zu einer starken Belastung der Angehörigen und haben auch auf gesellschaftlicher Ebene Auswirkungen, nicht zuletzt finanzieller Art. Die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zu fördern sowie psychische Erkrankungen frühzeitig zu erkennen und angemessen zu behandeln, erscheint aus den erwähnten Gründen besonders wichtig – nicht nur um aktuelle, sondern auch um langfristige Beeinträchtigungen zu verringern.

Messbarkeit


In epidemiologischen Studien wird der psychische Gesundheitszustand meistens anhand von An- und Abwesenheit von Krankheit oder Auffälligkeiten beschrieben. Methodisch gibt es unterschiedliche Erfassungstiefen. Sollen Aussagen auf Basis diagnostizierter psychischer Erkrankungen möglich sein, braucht es persönliche Interviews mit den Befragten, durchgeführt von Fachpersonen. Aufgrund mangelnder Ressourcen wird in epidemiologischen Studien allerdings meistens darauf verzichtet und es werden stattdessen Screening-Instrumente verwendet, z. B. Fragebögen und Skalen, welche die Befragten ausfüllen. Mit dieser Methode lassen sich zwar Hinweise auf das Vorhandensein psychischer Erkrankungen feststellen; da aber der persönliche Eindruck durch eine Fachperson fehlt, lässt sie keine fundierten diagnostischen Aussagen zu. Es ist daher in diesem Zusammenhang häufig von psychischen Auffälligkeiten und nicht von (diagnostizierten) psychischen Erkrankungen die Rede. Will man einzig einen oberflächlichen Eindruck vom psychischen Gesundheitszustand der Befragten erhalten, werden einzelne allgemeine Fragen eingesetzt. Die Interpretation der Antworten (z. B. 80% geben an, bei guter psychischer Gesundheit zu sein) bleibt aber oftmals schwierig, da keine Normwerte existieren, die zwischen krank und nicht-krank unterscheiden.

     Beim Erfassen des psychischen Gesundheitszustands von Kindern kommen folgende Probleme erschwerend dazu: (1) Es stehen andere psychische Erkrankungen im Fokus als bei Erwachsenen. Somit können nicht einfach die diagnostischen Interviewmanuale oder Screenings, die bei Erwachsenen standardmässig zum Einsatz kommen, verwendet werden. (2) Für Kinder ist es teilweise schwierig, Fragen zur psychischen Gesundheit zu verstehen und sich selbst einzuschätzen. Laut Riley (2004) sind allerdings bereits Kinder ab 8 Jahren fähig, valide über ihre psychische Befindlichkeit Auskunft zu geben. Kinder unter 10 Jahren werden aber selten direkt befragt, sondern ihre Bezugspersonen werden um eine Einschätzung gebeten. Findet aber eine direkte Befragung statt, braucht es auf das jeweilige Entwicklungsalter abgestimmte Erhebungsinstrumente. Ausserdem sollte für eine Diagnosestellung neben den Kindern selbst eine weitere Informationsquelle berücksichtigt werden (z. B. Eltern, andere Bezugs-, Betreuungspersonen, Lehrpersonen), da sonst mit einem unvollständigen oder verzerrten Verständnis der Kinder gerechnet werden muss (Van der Ende und Verhulst, 2005).