12.6 Handlungsempfehlungen

Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sind die Zukunft unserer Gesellschaft. Ihre Gesundheit, Gesundheitsrisiken und -chancen haben Auswirkungen bis ins hohe Alter und sogar auf die kommenden Generationen, wie neuere Forschungsergebnisse zeigen: Gewisse Zustände und Verhaltensweisen (z. B. Adipositas oder Rauchen) wirken sich auch auf die folgende Generation aus (Johannessen et al., 2019; Arshad et al., 2017; Fernandez-Twinn et al., 2015). Wenn verhindert werden kann, dass Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene krank werden oder verunfallen, indem Gesundheitsrisiken minimiert werden, können auch hohe Kosten eingespart werden (Bundy et al. 2018). Diesen Überlegungen entsprechend sollen die folgenden Handlungsempfehlungen die politische Entscheidungsfindung unterstützen.

1. Evidenz generieren – Datengrundlagen schaffen


Die Maxime der evidenzbasierten Politik geht davon aus, dass sie «von systematisch gewonnenem, empirisch und argumentativ begründetem Wissen profitieren sollte» (Balthasar et al., 2010). Folgende Empfehlungen können dazu beitragen, die Wissensbasis für evidenzbasierte Entscheidungen zu verbessern:

  • Epidemiologische Daten (Risikofaktoren, Gesundheitsdaten) für Kinder bis zum zehnten Altersjahr schweizweit einheitlich und in regelmässigen Abständen sammeln. Ein Monitoring der wichtigsten Public-Health-relevanten Faktoren und Gesundheitsoutcomes ist essenziell, denn der Gesundheitszustand im Erwachsenalter ist massgeblich von der Gesundheit im Kindesalter beeinflusst. Entsprechende Daten verbessern auch die Möglichkeiten, die Zusammenhänge mit anderen Sektoren (v. a. Bildung und Soziales) empirisch zu erforschen. Eine übergreifende Betrachtung kann auch helfen zu erkennen, wo hauptsächlich weitere Daten notwendig sind.
  • Forschungsvorhaben zu Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen daraufhin überprüfen, ob die Schweiz alleine geeignet ist, aussagefähige Daten zu generieren. Wo notwendig und sinnvoll, sollten Forschende weiterhin unterstützt werden, Forschungsarbeiten in Zusammenarbeit mit dem europäischen Ausland zu unternehmen und insbesondere auch mit den bestehenden europäischen Registern zusammenzuarbeiten.
  • Neben der generellen, regelmässigen Bereitstellung von statistisch-epidemiologischen Daten, Lücken gezielt auch mittels einmaliger Studien füllen, wenn sie für die Steuerung der Angebote der Gesundheitsversorgung des Kinder- und Jugendalters wichtig sind. Beispielsweise könnten Fragen der Medikamenteneinnahme oder von Bedarf und Angebot an psychotherapeutischen Behandlungen genauer untersucht werden (vgl. Kapitel Gesundheitsversorgung).
  • Die Wirkungsevaluation von Gesundheitsförderungs- und Präventionsprojekten und Massnahmen in der Gesundheitsversorgung einfordern und unterstützen. Es ist grundsätzlich sinnvoll, den Wert präventiver Leistungen im Kinder- und Jugendalter für die gesamte Gesellschaft wissenschaftlich weiter zu untersuchen.

2. Sich an der Zukunft orientieren


Klassische Datensammlungen (siehe Punkt 1) geben Informationen zur Vergangenheit bis maximal zur Gegenwart. Indessen ändern sich die Lebenswelten der jüngsten Generation derart schnell, dass das nicht genügt. Es braucht einen regelmässigen, strukturiert vorausschauenden Blick in die Zukunft, der die Strategieentwicklung unterstützt. Wir empfehlen, diesen Blick in die Zukunft bewusst zu planen, zum Beispiel durch folgende Massnahmen:

  • Ein Gremium («Kinder-Zukunftsforschende») beauftragen, in regelmässigen Abständen Bericht zu erstatten zu neuen Trends zur Gesundheit und zum Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen, zu zukünftigen Herausforderungen und zur Einschätzung der Chancen und Risiken. Allenfalls könnte das in Zusammenarbeit mit der Eidgenössischen Kommission für Kinder- und Jugendfragen (siehe Punkt 6) organisiert werden.
  • Es ist sinnvoll, dass diese Berichte einen multisektoralen Ansatz anwenden (Obsan, 2009 und 2015), wodurch auch gesundheitsrelevante Handlungsempfehlungen für nicht-medizinische Politikbereiche gegeben werden können. Der Blick in die Zukunft der Gesundheit der Bevölkerung muss die Veränderungen in der physischen (z. B. Klima­veränderungen oder Landschaftswandel) und sozialen Umwelt und insbesondere der digitalen Welt einbeziehen.

3. Chancengleichheit leben – Leave no one behind


Die Schweiz hat viele Voraussetzungen geschaffen, damit alle Kinder hohe Gesundheits- und Lebenschancen haben und der Zugang zum Gesundheitssystem gewährleistet ist. Es kann davon ausgegangen werden, dass diese Anstrengungen weitergeführt werden und dafür die Vernetzung über die jeweils direkt betroffenen Politikbereiche hinaus gepflegt wird («health in all policies»). Folgende Weiterentwicklungen könnten zusätzlich sinnvoll sein:

  • Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene bei der Erarbeitung neuer Prozesse und Strukturen mitbestimmen lassen (Partizipation).
  • Frühförderungsangebote schweizweit weiter ausbauen und vernetzen. Dieses Mittel zur Verbesserung der Chancengleichheit wird in vielen Kantonen und Gemeinden noch wenig stark genutzt.
  • Den Zugang benachteiligter Gruppen, zum Beispiel Mütter und Kinder mit Migrationshintergrund oder mehrfach Benachteiligte, zum Gesundheitssystem fördern.
  • Sicherstellen, dass alle, auch benachteiligte Gruppen, in einer gesundheitsförderlichen Umgebung aufwachsen. Gelungene Bewegungsförderung im Kindes- und Jugendalter setzt voraus, dass das Umfeld einerseits Bewegung überhaupt ermöglicht und andererseits auch dazu einlädt, sich zu bewegen.
  • Beim Thema Chancengleichheit den Blick für Ungleichheiten über Gender, Migration und sozioökonomische Unterschiede hinaus öffnen. Eine regelmässige Rezeption neuer Forschungsresultate ist dazu sinnvoll. Zum Beispiel sind Forschungsresultate zu Kindern und Jugendlichen mit erkrankten Elternteilen erst seit kurzer Zeit verfügbar.

4. Auf psychische Gesundheit achten


Es bestehen Hinweise, dass sich die psychische Gesundheit der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Schweiz im Wandel befinden. Zum Beispiel scheinen psychoaffektive Beschwerden oder Depressionssymptome zuzunehmen, und eine ungünstige Nutzung von digitalen Medien kann sich auf den Schlaf auswirken. Doch die Hinweise sind bisher ungenügend durch Daten abgesichert. Es wird angeregt:

  • Das Wohlbefinden und die psychische Gesundheit von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen genauer zu untersuchen (inkl. Risiko- und Schutzfaktoren). Neuere Angaben zu spezifischen Störungen fehlen gänzlich, und die Aussagekraft der Angaben zu psychischen Auffälligkeiten variiert stark nach Altersgruppe.
  • Das Erlernen von Gesundheits- und Lebenskompetenzen, sowie Medien- und Risikokompetenzen bereits bei Kindern, aber auch bei Eltern fördern. Zum Beispiel sollten Eltern bei Kindern im Vorschulalter den Medienkonsum im Blick haben und sich allgemein ihrer Vorbildrolle stets bewusst sein.

5. Gesundheitsversorgung sicherstellen und System koordinieren


Die Koordination im Gesundheitssystem der föderalen Schweiz ist eine Herausforderung. Zudem kann das Gesundheitssystem nicht alleine die Aufgaben übernehmen, Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene gesund zu erhalten. Gefordert sind auch andere Politikbereiche, unter anderem Bildungs- und Sozialsystem wie auch Umwelt- und Raumentwicklung.

     Die folgenden Vorschläge zur Sicherstellung der Versorgung und Abstimmung innerhalb des Gesundheitssystems und darüber hinaus können zur Gesundheit von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen beitragen:

  • Pädiatrische und jugendmedizinische Grundversorgung sowie psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung sicherstellen.
  • Regelmässiger Austausch von Personen aus dem Gesundheitswesen, insbesondere aus dem Bereich Gesundheitsförderung und Prävention, mit anderen Politikbereichen zum Thema Kinder- und Jugendgesundheit.
  • Den multisektoriellen Ansatz, die salutogene sowie systemische Sichtweise und die Chancengleichheit im Bereich der Förderung der Gesundheit von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen weiterhin stärken.
  • Patientenpfade von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen verfolgen, Schwachpunkte in der Koordination erkennen und eliminieren. Zum Beispiel kommt es infolge Unterkapazitäten in der stationären Kinder- und Jugendpsychiatrie mitunter zu nicht adäquaten Platzierungen von Jugendlichen in der Erwachsenenpsychiatrie.
  • Übergangsphasen Kinder – Jugendliche – junge Erwachsene bei der Planung und Ausführung von Gesundheitsleistungen bewusst fokussieren und die Zuständigkeiten flexibel gestalten, um zu verhindern, dass Patientinnen und Patienten bei diesen Übergängen zwischen den Maschen hindurchfallen (zum Beispiel dank spezialisierten Angeboten der Adoleszenten-Psychiatrie).

6. Regulativ handeln, wo nötig


In den letzten zwanzig Jahren hat die Schweiz regulatorisch grosse Schritte gemacht, um Kindern und Jugendlichen den Schutz zu gewähren, dessen sie bedürfen und auf den sie Anrecht haben. Dennoch ist der Kinder- und Jugendschutz in der Schweiz noch heute zum Teil weniger etabliert als im europäischen Ausland, zum Beispiel gibt es weniger Regulierungen in Bezug auf den Konsum von Tabakprodukten als in mehreren europäischen Ländern (Jossens & Raw, 2018). Es bietet sich an, folgende Vorschläge zu diskutieren:

  • Die Umsetzung der offenen Punkte der Kinderrechte vorantreiben.
  • (Neue) Verhältnisse und Verhaltensweisen, durch die die Gesundheit von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen gefährdet werden könnte, aufmerksam verfolgen. Gegebenenfalls regulatorisch entgegenwirken und dabei multisektoral zusammenarbeiten.
  • Eine engere Zusammenarbeit des Gesundheitssektors mit der Eidgenössischen Kommission für Kinder- und Jugendfragen etablieren, um den Informationsaustausch im ausserparlamentarischen Bereich zu diesen Themen zu gewährleisten. Diese Kommission hat gemäss Artikel 22 Kinder- und Jugendförderungsgesetz KJFG Aufgaben der Beobachtung, der Sensibilisierung und der Beratung. Sie kann Massnahmen vorschlagen.