2.3 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen

Nachfolgende Teilkapitel gehen auf die Lebensfelder ein, welche für die Chancen der Jugendlichen ausschlaggebend sind. Insbesondere werden Erkenntnisse zur Chancengleichheit in Bildung besprochen sowie die Herausforderungen an den verschiedenen Übergängen des dualen Bildungssystems. In einem abschliessenden Teil folgt eine kritische Auseinandersetzung mit den Errungenschaften der Schweiz im Hinblick auf die Kinderrechte und die Kinderfreundlichkeit der Gesellschaft.

Chancen auf eine gute Ausbildung


In der Schweiz wurde in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten viel geforscht zu Themen der Berufsbildung und den Übergängen zwischen den Schulstufen und dem Berufsleben («Transition»). Zahlreiche Faktoren entscheiden, welchen Schul- und Berufsweg eine Person wählt und wie erfolgreich sie dabei ist. Nebst dem Geschlecht, der ethnischen Herkunft, dem sozialen Hintergrund und der schulischen Leistung können der Bildungsstand der Eltern, die Sprachregion sowie der Urbanisierungsgrad den weiteren Bildungsweg und den Ausbildungserfolg mitbeeinflussen (Meyer, 2018).

     Forschungslücken bestehen dennoch weiterhin, so beispielsweise für den Zusammenhang von Migration und dem Bildungserfolg. Dass rund ein Drittel der 15- bis 17-Jährigen in der Schweiz einen Migrationshintergrund in der ersten oder zweiten Generation aufweist, verleiht dem Thema ein besonderes Gewicht (BFS, 2017b). Der Bildungsbericht 2018 untermauert den Forschungsbedarf in diesem Bereich und weist gleichzeitig auf die fehlende Datengrundlage hin (SKBF, 2018).
 

Bildungsreproduktion


Ob ein Kind den Übertritt in die Sekundarstufe I erfolgreich meistert, hängt gemäss Neuenschwander (2009) unter anderem von der Schichtzugehörigkeit der Familie und der Erwartungshaltung der Eltern ab. Dieser Zusammenhang wird auch als ausschlaggebender Faktor angesehen, dass Kinder aus Migrantenfamilien im Durchschnitt reduzierte Bildungschancen aufweisen (Schnell & Fibbi, 2016). Auf der Sekundarstufe I zeigen sich ausserdem deutliche Bildungsdisparitäten zwischen den Geschlechtern; der Anteil der Mädchen beim Schultyp mit erweiterten Anforderungen ist überdurchschnittlich hoch (Glauser, 2015). Dass die Mädchen auf dieser Stufe bessere Leistungen vollbringen als Jungen, ist ihrer ausgeprägten Leistungsbereitschaft geschuldet (Neugebauer, Helbig, & Landmann, 2011).

     In der Schweiz wählen etwas mehr als 6 von 10 Jugendlichen nach der obligatorischen Schulzeit den Weg in die Berufslehre (BFS, 2018a). Dabei scheint die Ausbildung der Eltern entscheidend dafür zu sein, wie die Jugendlichen das duale Bildungssystem nutzen: Der Bildungsgrad wird oft reproduziert. Jugendliche von Eltern mit einer Berufslehre werden in rund der Hälfte der Fälle ebenfalls einen Abschluss der beruflichen Grundbildung anstreben (Becker & Glauser, 2018). Ein analoges Bild ergibt sich bei Eltern mit einer Ausbildung auf der Tertiärstufe: 62,5 % der Kinder von Akademikerinnen und Akademikern verfügen ebenfalls über einen Hochschulabschluss (vgl. Grafik G2.10).

     Verantwortlich für die deutlich ausgeprägte Bildungsreproduktion ist nicht die Ausbildung der Eltern an sich, sondern gemäss Becker und Glauser (2018) der damit verknüpfte sozioökonomische Status respektive die Klassenlage der Eltern. Eine zweite Erklärung führt aus, dass die Eltern jenen Bildungsverlauf viel besser kennen, den sie selbst eingeschlagen haben, und die Vertrautheit zu den übrigen Bildungswegen fehlt.

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G2.10

Chancen auf eine gelingende berufliche Integration und einen gelingenden Lebensentwurf


Der Eintritt ins Erwerbsleben nach der Ausbildung ist die zweite entscheidende Phase für die künftige berufliche Entwicklung der jungen Menschen. Neuere Erkenntnisse auf diesem Gebiet zeigen, dass sich die Dauer des Übergangs ins Berufsleben im Durchschnitt verlängert hat. 18 Monate nach Abschluss der Sekundarstufe II ist der Arbeitsmarkteintritt für viele Jugendliche noch nicht vollzogen (Bachmann Hunziger et al., 2014). Unter allen Personen, die im Jahr 2013 ihren Abschluss der Sekundarstufe II gemacht haben, waren sechs Monate später 18% weder erwerbstätig noch in einer Ausbildung. Nach 18 Monaten waren es noch 11% der rund 87 000 Absolventinnen und Absolventen (BFS, 2019b). Gemäss BFS (2018b) hat der Bildungsstand der Eltern einen (wenn auch schwachen) Einfluss darauf, ob die Person 18 Monate nach Abschluss als «erwerbslos» gemeldet ist. Demgegenüber reduziert sich beziehungsweise verschwindet der Effekt des Migrationshintergrunds, wenn bei der Analyse die soziodemografischen Merkmale und die Abschlussart berücksichtigt werden (BFS, 2018b).

     Die Beschäftigungssituation nach Bildungsabschluss zeigt sich vor allem für die Personen mit einem eidgenössischen Berufsattest (EBA) nach einer zweijährigen Grundausbildung als schwierig. Besonders negativ präsentiert sich die Situation im EBA-Berufsfeld «Persönliche Dienstleistungen». Hierzu zählen das Gastgewerbe, Reisebüros und Coiffeurläden, in denen die Weiterbeschäftigungsrate im Lehrbetrieb tief ist. Fast ein Viertel der Absolventen sind 42 Monate nach dem Abschluss ohne Erwerb. Die geringste Chance, innerhalb von sechs Monaten nach dem Lehrabschluss eine Arbeitsstelle zu finden, haben Büroassistenten und Küchenangestellte (econcept & LINK Institut, 2016).

Exkurs: Trend zu Eignungstests und Brückenangeboten

An der Schnittstelle zwischen der obligatorischen Schulzeit und der beruflichen Grundbildung zeigen sich in der Schweiz gewisse Koordinationsprobleme (Moser, 2004). Die während der Schulzeit erworbenen Fähigkeiten reichen für das anschliessende System oft nicht aus – oder sie sind für künftige Arbeitgeber zu wenig ersichtlich. Unternehmen führen deshalb vermehrt Eignungstests durch.

    Bei den Jugendlichen gewinnen Brückenangebote an Beliebtheit. Untersuchungen kommen zum Schluss, dass in der Schweiz auch schwächeren Jugendlichen eine Ausbildungschance geboten wird und Brückenangebote tatsächlich oft als Brücke dienen und keine Sackgasse schaffen (Buchholz et al., 2012).

    
Mit dem Erwachsenwerden rückt für viele die Entscheidung über die Gründung einer eigenen Familie in den Vordergrund. Bei der Entscheidung, selbst Kinder zu haben, zeigt sich die Vereinbarkeit von Beruf und Familie als ein wichtiger Faktor. Rund die Hälfte der (noch) kinderlosen Personen rechnet damit, dass die Geburt eines Kindes die Berufsaussichten negativ beeinflussen wird (BFS, 2017a). Flexible Arbeitsbedingungen, Angebote zur familienergänzenden Kinderbetreuung und ein stabiles soziales Netz erleichtern Eltern die Vereinbarkeit von Arbeit und Familie. Einelternfamilien, Beschäftigte in gewissen Branchen sowie Familien mit tiefem Einkommen verfügen in der Regel über geringere Möglichkeiten zur Nutzung solcher Ressourcen.

Chancen auf rechtliche Gleichstellung und gesellschaftliche Partizipation


Die Gesellschaft als Ganzes leistet durch ihr privates und politisches Handeln einen entscheidenden Beitrag an die Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder und Jugendlichen. Die Unterzeichnung des UN-Übereinkommens über die Rechte des Kindes (1997), die Strategie für eine schweizerische Kinder- und Jugendpolitik (2008), die Einführung des Kinder- und Jugendförderungsgesetzes KJFG (2013) sowie die Schaffung eines Kindes- und Erwachsenenschutzgesetzes (2013) sind wesentliche politische Meilensteine der Schweiz. Die ihnen folgenden Massnahmen, Projekte und Initiativen zielen darauf ab, die Rechte der Kinder und Jugendlichen zu fördern und ihnen Entfaltungsmöglichkeiten in allen Lebensbereichen zu gewähren.

     Um zu erfahren, wie sich die Schweiz bei der Umsetzung einer aktiven Kinder- und Jugendpolitik präsentiert, wurden Gespräche mit Fachpersonen zu den Rechten von Kindern und Jugendlichen und der Kinderfreundlichkeit der Schweiz geführt. Die nachfolgenden Ausführungen basieren auf einer Befragung von neun Expertinnen und Experten aus den Bereichen Wissenschaft, Nichtregierungsorganisationen und Verwaltung.13

     Laut der Mehrheit der Befragten befindet sich die Schweiz auf einem guten Weg, Kinder und Jugendliche als vollwertige Rechtspersönlichkeiten anzuerkennen. Die öffentliche Diskussion um die Rechte der Kinder habe in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen. Mehrfach wird allerdings auf das fehlende Verbot der körperlichen Bestrafung von Kindern hingewiesen. Ebenfalls bemängelt wird von verschiedener Seite die Umsetzung der Kinderrechte. So wird auf die unvollständige Umsetzung des Anhörungsrechts der Kinder hingewiesen, beispielsweise im medizinischen Kontext, bei einer familienexternen Platzierung und im Migrationsbereich. Zudem existiert in der Schweiz bislang keine Ombudsstelle für Kinderrechte, die den Betroffenen den Zugang zu Beratungs- und Beschwerdemöglichkeiten verschaffen könnte. Grössere Anstrengungen zur Umsetzung der Kinderrechte fordern einige der Befragten im Bereich der Chancengleichheit. Kritisiert wurde hier, dass der Zugang zur Frühförderung regional stark variiert.


Laut der Mehrheit der befragten Fachpersonen befindet sich die Schweiz auf einem guten Weg, Kinder und Jugendliche als vollwertige Rechtspersönlichkeiten anzuerkennen. Das fehlende Verbot der körperlichen Bestrafung von Kindern sowie die Umsetzung der Kinderrechte wird von verschiedener Seite bemängelt.
 

     Auf Ebene des Bundes sind gemäss den Befragten in den vergangenen 20 Jahren zahlreiche Massnahmen ergriffen worden, um die Gesellschaft kinderfreundlicher zu machen und die Partizipation zu fördern. Eine kinderfreundliche Gesellschaft bietet Kindern Schutz, Entfaltungsmöglichkeiten, Zugang zur formellen Bildung und «informellen Lernsettings». Zudem beteiligt sie Kinder und Jugendliche bei Entscheidungen, die sie unmittelbar und in Zukunft betreffen. Das Kinder- und Jugendförderungsgesetzes KJFG wird von den Befragten als wichtiges Förderinstrument des Bundes für die ausserschulische Arbeit mit Kindern erwähnt. Damit unterstützt der Bund zeitlich begrenzte Modellvorhaben und Partizipationsprojekte, Aktivitäten von privaten Organisationen, die Aus- und Weiterbildung von sozial engagierten Jugendlichen sowie kantonale Programme für die Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendpolitik. Als wichtige Akteure für die Förderung der Kinder und Jugendlichen erwähnen mehrere Befragte die zahlreichen Nichtregierungsorganisationen, welche sich stärker an den Bedürfnissen der Kinder orientieren können. Diese stossen regelmässig Initiativen an, welche später von der öffentlichen Hand mitfinanziert werden, wie z. B. bei der Offenen Jugendarbeit Zürich oder dem Kinderbüro Basel.

  • 13Hierzu wurden im November 2018 leitfadengestützte telefonische Interviews durchgeführt. Die Befragung beruhte auf einer methodischen Mischung aus offenen und geschlossenen Fragen und gliederte sich in zwei Teile. Für eine ausführlichere Darstellung dieser Ergebnisse siehe Obsan Bericht 01/2020 von Zumbrunn et al.
Exkurs: UNICEF-Initiative «Kinderfreundliche Gemeinde»

Die Initiative möchte dazu beitragen, die Kinderrechtskonvention auf der kommunalen Ebene umzusetzen. In der Schweiz wurde sie im Jahr 2004 aufgegriffen. ­Gemeinden können sich aktiv für die Auszeichnung bewerben. Die Initiative versteht sich als ein ganzheitlicher Ansatz, der bei den verschiedenen Lebenswelten der Kinder ansetzt. Gemeinden, die sich für eine Bewerbung entscheiden, laden Kinder und Jugendliche zu einer Zukunftswerkstatt ein und verpflichten sich gleichzeitig zur Ausarbeitung eines Aktionsplans. Zurzeit tragen 38 Gemeinden das Label «kinderfreundliche Gemeinde», darunter grosse Städte (Basel, Genf) und grössere Agglomerationsgemeinden (Reinach/BL, Grenchen/SO), aber auch kleinere, eher ländlich geprägte Gemeinden (Blauen/BL, Menznau/LU, Zetzwil/AG).


Eine deutliche Mehrheit der befragten Personen bescheinigt der Schweiz im internationalen Vergleich in Bezug auf Kinderfreundlichkeit Nachholbedarf, aber mit grossen Unterschieden zwischen den Regionen und Gemeinden. Die soziale Einbindung der Kinder gehe zwar viel weiter als noch vor einigen Jahrzehnten. Dennoch sei die Mitwirkung auf der gesellschaftlichen Ebene heute noch nicht dort angekommen, wo sie im familiären Umfeld (und zum Teil in der Schule) gelebt wird. Entwicklungsbedarf sehen die Befragten auch im Bildungssystem, welches aufgrund des Leistungsdrucks und der Selektionsorien­tierung nicht als kinderfreundlich gelten könne. Mittels systematischer Frühförderung, einer «gelebten Integration» und mit einer stärkeren Partizipation der Schülerinnen und Schüler an den Entscheidungsprozessen (z. B. in Form eines Klassenrats) könne der Schulbereich kinderfreundlicher gestaltet werden. Entwicklungsbedarf wird von den Befragten auch im ausserschulischen Bereich gesehen. Konkret fehlten den Kindern genügend Freiräume, wo sie sich ungestört aufhalten und autonom bewegen können. Auch nehme die frei verfügbare Zeit, die sich zwischen den strukturierten Blöcken wie Unterricht, Hausaufgaben und den fix geplanten Freizeitaktivitäten ergibt, tendenziell ab. Da unstrukturierte Zeit einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Steue­rung des Denkens und Handelns von Kindern leisten kann (Barker et al., 2014), ist dieser Trend problematisch.